Die Yoga-Philosophie, so gut und richtig und schön sie auch sein mag, stellt einen im Alltag immer wieder gerne vor Herausforderung, manchmal durchaus skurriler Natur. Neulich überraschte ich mich selbst bei einem inneren Dialog über das Schicksal eines Ohrenpinschers, der mir aus einer Artischocke entgegen gekrochen kam. Bevor ich mich versah, befand ich mich am Fenster und fragte mich, was denn nun besser für den Ohrenpinscher sei: Setze ich ihn auf die viel befahrene Straße aus? Rette ich ihm damit wirklich das Leben? Oder wird er qualvoll verhungern oder doch nur von einem Auto zerquetscht? Wäre dann der kurze und schmerzlose Tod nicht vorzuziehen? In diesem Fall entschied ich mich für ersteres, weil der Ohrenpinscher so zumindest noch eine Chance auf Leben hatte.
Aber was ist denn überhaupt passiert, dass ich mich so intensiv mit dem Sein oder Nichtsein eines Ohrenpinschers befasse? Ein Ohrenpinscher! Die Antwort ist Ahimsa! Ahimsa zu praktizieren hat sich wohl schon mehr in mein Leben geschlichen, als ich dachte. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit gibt nicht unbedingt eindeutige Antworten, erlaubt aber ein Spektrum an Betrachtungsweisen und Fragestellungen, die es leichter machen, einen Weg zu seinem Seelenfrieden oder zumindest eine Annäherung dorthin zu finden. Durch die Yoga-Praxis für das Thema sensibilisiert, begegnet mir Ahimsa nun immer und überall.
Am gegenwärtigsten in meinem täglichen Leben ist Ahimsa sicherlich bei der Frage: Bin ich nun Vegetarier – ja oder nein? Irgendwie impliziert Ahimsa ja fast zwangsläufig Vegetarismus, auch wenn Verbote und Dogmen solcher Art wohl nicht in den Schriften der Yogis zu finden sind. Dennoch hat erstaunlicherweise automatisch ein Prozess begonnen, der dazu führt, dass meine Lust, der Appetit oder das Bedürfnis nach Fleisch auf dem Teller geradezu gen Null geht. Manche können und wollen diesen Prozess vielleicht bewusst steuern, ich nehme ihn eher beobachtend wahr. Fest steht, dass sich „plötzlich“ Gedanken einstellen, die ich in meiner Pre-Yoga-Zeit nicht gedacht habe.
So z. B. beim Spaziergang am Rhein, wo immer wieder Lämmer fröhlich durchs Gras hüpfen. Wäre es für das Tier besser, gar nicht erst zu leben, oder zumindest eine kurze Zeit „Leben“ zu genießen, auch wenn es von vornherein zum Verzehr vorgesehen ist? Oder wäre dies wieder nur ein Argumentationstrick, um den Fleischkonsum zu rechtfertigen? Voraussetzung dafür wäre ja eh, dass ein Tier überhaupt ein lebenswertes Leben hat. Was direkt wieder zu anderen Gedanken wie Massenviehzucht versus Bio-Aufzucht führt, Fleischskandal, Schlachtungsmethoden und so weiter und so fort. Ein komplexes Themenfeld! Was der Vegetarier elegant umschifft, indem er sich solche Fragen erst gar nicht stellen muss.
Darüber hinaus begegnet mir Ahimsa bei einer Vielzahl von anderen täglichen Begebenheiten – im Kleinen wie im Großen. Bei besagtem Ohrenpinscher in der Artischocke, bei der Mücke, die mich nachts zum Wahnsinn treibt, bei der Spinne in der Dusche, vor der ich früher schreiend davon gelaufen wäre, die ich aber nun vor dem sicheren Tod im Abfluss rette. In Gesprächen über die Züchtung von Haustieren versus Tieren aus Tierheimen. Im allgemeinen Umgang mit den Ressourcen dieser Erde, im täglichen Miteinander mit anderen Menschen – die Liste könnte unendlich fortgesetzt werden. Ein fortwährender Prozess...
Auch z. B. das komplexe Thema „Sterbehilfe“ – was in Filmen wie „Emmas Glück“, „Das Meer in mir“ oder „Tapas“ meiner Meinung nach sehr würdevoll behandelt wird – bekommt mit Ahimsa mehr Tiefe und Handlungsspielraum. Wäre alleinig Gewaltlosigkeit die Handlungsmaxime, ist aktive Sterbehilfe undenkbar. Ist jedoch die Rücksichtnahme auf einen Menschen, der um diese Hilfe bittet, der maßgebliche Treiber des Handelns, so kann Sterbehilfe unter anderen Gesichtspunkten betrachtet werden. Und für jemanden, der vor dieser Fragestellung steht, vielleicht zu einer Antwort führen. Da sei das Universum vor, dass ich jemals in eine solche Situation gerate, aber wenn, dann könnte ich solche Überlegungen wahrlich gut gebrauchen!
Mein Lehrer meinte übrigens, ich hätte den Ohrenpinscher natürlich in den nächsten Park retten sollen! Aber ich bin mir nicht so ganz sicher, ob er das wirklich ernst meinte. Oder vielleicht doch?